Haben Sie noch keine Utopie? Dann wird es Zeit, eine zu entwickeln. Ich gebe zu - wenn ich Ihnen jetzt mit Utopie komme, dann denken Sie wahrscheinlich an Hippies, Klimakleber*innen und andere realitätsferne und/oder moralisch überhöhte Konzepte. Aber genau diese Utopien sind Teil meines Werkzeugkoffers als Beraterin für diversitätsorientierte Organisationsentwicklung in der kommunalen Welt.
Beispiel für Utopien gefällig?
Ich glaube daran, dass weiße Cis-Männer über 50 Jahre (wie sie oft im Fahrdienst oder der Werkstatt arbeiten) fähig sind, sich zu verändern und ihren Beitrag zur Chancengleichheit zu leisten. Sie etwa nicht? Vielleicht hat Ihnen kurz die Altersdiskriminierung ein Bein gestellt.
Ich glaube daran, dass Menschen mit Migrationserfahrung genug Rückhalt in Unternehmen bekommen können, sodass sie auch in Führungspositionen repräsentativ zum Bevölkerungsanteil vertreten sind.
Ich glaube daran, dass Angestellte mit Behinderung in agilen Netzwerken Vorschläge für eine barriereärmere Umgebung erarbeiten und selbst die besten Lösungen finden.
Klingt utopisch? Wunderbar.
Warum Utopien alltagstauglich sind
Eine Frage, die ich zu Workshop- oder Trainingsbeginn manchmal höre, ist diese: „Na Sie kommen doch frisch aus diesem Uni-Elfenbeinturm! Was wollen Sie junge Frau mir denn erzählen?“ Zuerst: Netter Versuch, mir meine Kompetenz abzusprechen. Andererseits ein berechtigter Einwand. Denn Vielfalt und Diversität gelten oft als Themen aus dem Elfenbeinturm für den Elfenbeinturm. Da drinnen kann man sich seine Utopie ja leisten, oder?
Hier draußen in der Kommunalwirtschaft brauche ich meine Utopien täglich. Natürlich nicht als einziges Werkzeug. Denn groß denken funktioniert für mich nur, wenn ich gleichzeitig die Füße auf dem Boden der Tatsachen behalte. Hier ein kleiner Einblick, mit welchen Fragen mir das gelingt:
- Welchen Wissensstand und welchen Bezug hat die Gruppe zum Thema Vielfalt? Als Beraterin ist es mein Job, das Thema verständlich zu machen. Das heißt oft: Reduzieren, runterbrechen, vereinfachen.
- Wie kann ich meine Zielgruppe abholen? – Keine Lust aufs Thema? Widerstände sind ok. Die Lösung liegt oft nicht in der Konfrontation, sondern im weich, aber bestimmt bleiben.
- Was ist ein erster Schritt in die richtige Richtung? Nach einem halbtägigen Training verlassen kritisch eingestellte Männer den Raum als glühende Verfechter von Chancengerechtigkeit? Eher unwahrscheinlich. Aber wie wäre es, wenn sie mit genügend Fakten ausgestattet sind, um nicht mehr abtun zu können, dass Vielfalt ein ernstzunehmendes Thema ist und perspektivisch Verhaltensänderungen von ihnen verlangt?
- Welchen Schritt in Richtung meiner Utopie kann ich mit meiner Zielgruppe gehen? Welchem großen Ziel kann ich damit ein kleines Stück näherkommen?
Drei gute Gründe für Utopien
Was kann die Utopie als Werkzeug leisten? Ich möchte Ihnen drei Beispiele zeigen:
1. Utopie = strategisches Arbeiten von Anfang anBesonders, wenn noch keine aussagekräftige Vision und Mission zum Thema Vielfalt im Unternehmen existiert, gibt eine Utopie eine Richtung. Dadurch können wir von Anfang an strategisch denken und auch kleine Aktionen und Trainings so gestalten, das sie aufs „Große Ganze“ einzahlen und unsere Arbeit so wirksam wie möglich ist.
2. Utopie = zielgruppengerecht und intersektionalAngestellte im Fahrdienst müssen auf Fahrgäste eingehen, die unterschiedliche Sprachen sprechen, die eingeschränkt sehen, hören oder gehen können. In der vermeintlich homogeneren Gruppe der Bürohengst*innen gibt es oft subtilere Formen der Diskriminierung und Mikroaggressionen, wie etwa abwertende Kommentare über Herkunft oder sexuelle Orientierung. Und egal ob am Computerarbeitsplatz oder in der Linie – viele Menschen sind von mehreren Diskriminierungsmerkmalen betroffen. Eine Utopie ermöglicht mir, sie alle in ihrer Unterschiedlichkeit zu erfassen und in ein gemeinsames Zielbild zu integrieren.
3. Utopie = selbst motiviert bleibenRessourcenmangel, Widerstände, langsame Prozesse. Sich beruflich mit dem Thema Vielfalt zu beschäftigen, erfordert oft eine gewisse Leidensfähigkeit und viel Durchhaltevermögen. Meine Utopie ist mein innerer Kompass: Sie hilft mir, bei den Herausforderungen und Widerständen des Diversitätsmanagements unbeirrt Orientierung und Motivation zu behalten.
Wie sieht Ihre Utopie aus?
Gerade weil das Thema Vielfalt bei vielen Unternehmen noch in den Kinderschuhen steckt, möchte ich Sie ermutigen, groß zu denken. Was ist Ihre Utopie? Ihr innerer Kompass? Und wenn diese Utopie wahr werden würde, wie sähe es dann um Sie herum aus?
Wen treffen Sie in der Kantine? Wie hat sich die Fachkräfte-Thematik entwickelt? Wer bewirbt sich bei Ihnen? Wie haben sich Karrierepfade verändert? Wie hat sich die oberste Führungsebene zu diesem Thema positioniert?
Selbst als Beraterin für diversitätsorientierte Organisationsentwicklung kenne ich keine Institution, die die in allen Diversitätsdimensionen umfassend aufgestellt ist und alle Kategorien der Diversitätsorientierung erfüllt. Und das ist gut so, diese Lücke zwischen Utopie und Realität muss bestehen, die Utopie darf Utopie bleiben. Aber um mit Alice aus dem Wunderland zu sprechen: Manchmal habe ich schon vor dem Frühstück an sechs unmögliche Dinge geglaubt.