"Mobilität und Verkehr sind etwas Soziales"

09.04.2024 | Von Selina Jendrossek | Verkehrswende

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Der Sustainable Urban Mobility Plan (SUMP) ist ein strategisches Instrument zur nachhaltigen Mobilitätsplanung. Er bietet Kommunalverwaltungen und Verkehrsplaner*innen einen ganzheitlichen Ansatz, zukunftsorientierte Mobilität in Städten zu gestalten und umzusetzen. Darüber hat Lots*in Selina Jendrossek mit Dr. Susanne Böhler von Rupprecht Consult im Interview gesprochen.

Rupprecht Consult war maßgeblich an der Mitentwicklung der Richtlinien für nachhaltige urbane Mobilitätspläne (SUMP) auf europäischer Ebene beteiligt. Was war das initiale Momentum für die Entwicklung der Richtlinien?

Die Europäische Union (EU) ist beim Thema Verkehr schon immer stark vorangegangen. Es wurde erkannt, dass der städtische Verkehr einen erheblichen Beitrag zu den auf europäischer Ebene gesetzten Zielen leisten muss, insbesondere in Bezug auf Luftreinhaltung und Lärmschutz. Deshalb hat sich die EU zunehmend mit der Frage beschäftigt, wie der Stadtverkehr in Zukunft gestaltet sein muss, um nachhaltiger zu sein.

In der Folge gab es interessante Projekte, die von der EU gefördert wurden. In einem dieser Projekte entstanden 2013 erstmals die SUMP-Richtlinien. Diese haben sich mit der Frage beschäftigt, wie derzeit geplant wird und wie gut Nachhaltigkeitsaspekte integriert sind. Dabei wurden bewährte Praktiken und Standards berücksichtigt – denn es ist ja nicht so, dass Städte nicht planen; sie planen kontinuierlich.

Jedoch gab es einen Paradigmenwechsel in den letzten 20 Jahren. Steigende Motorisierung, autogerechte Städte: das verbessert die Stadtqualität nicht. Verschiedene Verkehrsträger müssen in den Vordergrund rücken. Die Frage ist, wie bekommt man das in der Praxis hin? Expertinnen und Experten aus verschiedenen EU-Mitgliedsstaaten wurden dazu befragt und in die Entwicklung der Richtlinien involviert. Danach gab es viele Forschungs- und Förderprojekte, die die Städte integriert haben.

Das bedeutet, die Richtlinien wurden im ersten Schritt in einer qualitativen Herangehensweise entwickelt und anschließend in praktischen Projekten verprobt?

Es gab Flaggschiff-Projekte, an denen viele Städte beteiligt waren und ihr Feedback gegeben haben; zum Beispiel zu dem Thema, wie ein SUMP erstellt werden kann. Die Methodik wurde daraufhin noch einmal verfeinert. 2019 wurden die Richtlinien aktualisiert, verbessert und neue Beispiele gegeben. Das sind die Richtlinien, mit denen wir jetzt arbeiten.

Die Richtlinien geben Orientierung. Sie sind flexibel und anpassbar an unterschiedliche Anforderungen. Unsere Herangehensweise ist dabei, in engem Kontakt zu den Entscheidungsträgern und den technischen Planern zu stehen, den interdisziplinären Austausch zu koordinieren, Erkenntnisse zu verarbeiten und sie als Handreichung wieder zurückzugeben.

Wo steht Deutschland bei der Entwicklung nachhaltiger urbaner Mobilitätspläne Ihrer Meinung nach gerade?

Viele Städte befinden sich im Wandlungsprozess in Richtung nachhaltiger Mobilität. Das Fahrrad wird gefördert, der Fußverkehr verbessert, die Nutzung des ÖPNV vereinfacht. Aber es geht auch darum, auf ein neues Level zu kommen: Klimaneutralität ist in Deutschland ein großes Thema. Nachhaltige Mobilitätspläne unterstützen, Veränderungen auf lokaler und regionaler Ebene agil und schnell umzusetzen.

Deutschland hat eine starke Planungskultur und entwickelte Verfahren. Das sind gute Voraussetzungen. Insbesondere Großstädte verfolgen bereits seit Jahrzehnten integrierte, ganzheitliche Ansätze in der Verkehrsentwicklungsplanung. Der SUMP hat aber einen neuen Push gegeben. Hier werden nicht grundsätzlich andere Verfahren angewendet, aber andere Akzente gesetzt. SUMP setzt stärker auf Kooperation, Kommunikation, Koordination und Evaluation. Ich glaube, dass auch Viele in deutschen Kommunen, Städten und Gemeinden etwas damit anfangen können. Es sind auf jeden Fall Dinge in Bewegung, sodass Deutschland auf keinen Fall schlecht aussieht.

Welche Unterstützungsleistungen gibt es auf EU-Ebene und welche Rahmenbedingungen müssen die Staaten selbst schaffen?

Ein wichtiger Punkt ist sicher die Förderung. Der Begriff ist hier nicht immer SUMP, sondern z. B. Mobilitätsstrategie oder integrierter Mobilitätsplan. Wichtig ist, dass das eine freiwillige Leistung ist und keine Pflichtplanung. Insbesondere große Städte sehen selbst den Bedarf, Mobilität nicht nur projekthaft zu denken. Es braucht eine integrierte Planung. Das ist ein aufwändiger Prozess, der mit Koordinationsarbeit und zusätzlichen Aufgaben, wie der Bestandsanalyse verbunden ist. Diese Aufgaben benötigen Personal und zusätzliche Expertise von Dienstleistern. Fördermittel, wie sie zum Beispiel von den Bundesländern und auch des Bundes bereitgestellt werden, sind dort sowohl in der Planung als auch für die Umsetzung von Maßnahmen von Bedeutung.

In manchen Ländern gibt es strengere Vorgaben für die Planung, während Deutschland stärker auf die Planungsautonomie der Städte setzt. Insofern ist es richtig, dass Städte ihre Ziele selbst entwickeln. Dennoch bewegen sie sich in den von der Bundespolitik gesetzten Ziele, z. B. klimaneutral zu werden und nachhaltige Verkehrsträger zu fördern. Die Wege der Kommunen dahin zu kommen, sind je nach den Gegebenheiten vor Ort sehr unterschiedlich.

Es ist auf nationaler Ebene auch wichtig, Daten und Informationen bereitzustellen, einen übergeordneten Rahmen mit Zielen zu setzen, Erhebungen zu unterstützen und den Austausch zwischen den Städten zu fördern. In Deutschland wird es bald eine SUMP-Plattform geben und auch Städte bei der Planentwicklung mit Bundesmitteln unterstützt.

Für welche Städte und Kommunen sind nachhaltige, urbane Mobilitätspläne besonders attraktiv?

Es gibt Städte mit einer starken Bottom-up-Bewegung: ein hohes Bewusstsein für Verkehrsprobleme, Initiativen und Menschen, die sehen, dass sich etwas verändern muss. SUMP ist dort eine gute Methodik, Veränderungsprozesse zu gestalten, zu besseren Lösungen zu kommen, Entscheidungen vorzubereiten und wichtige Interessensvertreter mitzunehmen. Wenn viele Menschen betroffen sind, ist es wichtig von Anfang an ganzheitlich und koordiniert zu planen. SUMP eignet sich für diese bessere Integration und Kommunikation von Maßnahmen, insbesondere wenn sie große Veränderungen für die Bevölkerung mit sich bringen.

Welche ersten Schritte würden Sie Kommunen empfehlen, die noch keine Erfahrung mit integrierten Konzepten in der nachhaltigen Mobilitätsplanung haben?

Man muss sich an die örtlichen Gegebenheiten anpassen. Eine kleine Kommune muss nicht sofort eine weitreichende Strategie entwickeln. Die Kommunen sollten pragmatisch vorgehen und formulieren, was sie erreichen wollen und was sie dafür brauchen.

Ich würde Kommunen empfehlen, immer eine Vorphase zu haben und sich z. B. diese Fragen zu stellen: Wer beschäftigt sich mit der Thematik? Wer übernimmt die Koordination? Was sind unsere Ziele? Was sind Maßnahmen, die wir unbedingt umsetzen wollen? Was sind unsere wichtigsten Projekte? Wo kommen wir bisher noch nicht voran?

Manchmal benötigt es am Anfang auch noch gar nicht so viele Daten, sondern das Zusammenbringen von Interessen und der Intelligenz der Stadt. Der Schwerpunkt liegt nicht darauf, Maßnahmen schon im Detail zu planen, sondern einen strategischen Rahmen festzulegen, an dem man sich orientieren kann.

Dafür gibt es unterschiedliche Szenarien: Welche Entwicklungen müssen wir mit der Bevölkerung besprechen, um Unterstützung zu erhalten? Brauchen wir auch einen politischen Prozess? Welche Expertise und Kompetenzen brauchen wir? Müssen bestimmte Planungen verknüpft werden?

Welche Akteur*innen müssen idealerweise für eine nachhaltige Mobilitätsplanung zusammengebracht werden?

Zunächst ist das ein verwaltungsinterner Prozess in dem sich Abteilungen wie Stadtentwicklung, Umwelt und Mobilität abstimmen müssen. Es gibt Ziele, die in den Bereichen entwickelt werden, ineinandergreifen und einen Einfluss auf Mobilität haben. Die Mobilitätsplanung muss sich einpassen, aber auch Handlungsaufträge an andere Planungen geben. Der SUMP-Prozess ist nicht silohaft aufgesetzt. Ein Überblickswissen innerhalb der Verwaltung ist sehr wichtig. Dann kommen weitere Akteure hinzu, etwa Netzakteure der Stadt, eigener Gesellschaften und Anbieter öffentlicher Dienstleistungen. Die politische Unterstützung ist ebenfalls entscheidend, da sie häufig über die Haushalte bestimmen und Richtungsentscheidungen treffen.

Was sind Voraussetzungen, damit die integrierte Planung gut funktioniert? Sind wir in den deutschen Kommunen schon auf dem richtigen Weg?

Das Bewusstsein dafür ist da, aber es besteht Handlungsbedarf. Die Strukturen in den Verwaltungen sind oft silohaft organisiert und damit nicht optimal für integrierte Planung aufgestellt. Es braucht Lenkungsgruppen oder z. B. Klimaschutzmanager, die abteilungsübergreifend planen oder Abteilungen miteinander koordinieren. In größeren Kommunen gibt es oft schon Ansprechpartner für nachhaltige Mobilität.

Personal ist eine wichtige Ressource, denn die Mobilitätswende erfordert viele Maßnahmen, von Bauvorhaben bis hin zur Kommunikation. Angesichts des Fachkräftemangels ist auch Digitalisierung notwendig, um Prozesse effizienter zu gestalten, einen besseren Informationsaustausch zu gewährleisten und bessere Daten zu haben. In den Kommunen gibt es dahingehend Entwicklungen, die beschleunigt werden müssten.

Wo sollte der Bürgerbeteiligung in der Mobilitätsplanung eine noch stärkere Rolle zukommen? Wo hat sie einen besonderen Impact?

Die Städte finden immer sehr unterschiedliche Wege zu beteiligen und das machen sie, wie ich finde, oft sehr ambitioniert. Es gehört zu demokratischen Prozessen, dass sich Menschen äußern, Betroffenheiten anmelden und Lösungsvorschläge mit erarbeiten.

Die Gegebenheiten in den Kommunen vor Ort bestimmen, wie Beteiligungsformate in den Gesamtprozess eingepasst werden können und wie sie aussehen sollten, damit sie hilfreich für das Gesamtergebnis sind. Wenn die Mobilitätsplanung in die Umsetzung geht, wird die Zusammenarbeit mit den Bürgern in einzelnen Projekten konkreter. Es ist entscheidend, Veränderungsprozesse modellhaft durchzuspielen, bevor sie vollständig umgesetzt werden.

Um diesen Prozess gut zu steuern, muss es innerhalb der Verwaltung einen Plan geben, wie das funktionieren kann. Dabei helfen Kommunikationsexperten, die das Prozesshafte mit der Kommunikation verknüpfen. Man muss früh anfangen – auch mit interner Kommunikation und Beteiligung. Die Entwicklung und Umsetzung eines SUMP ist ein redender Prozess, in dem Menschen miteinander arbeiten, agieren, kommunizieren und sich abstimmen. Es ist ein politisch sozialer Prozess mit technischen Komponenten. Das ist das Neue: Mobilität und Verkehr sind etwas Soziales.

An welchen Stellen sollte Kommunikation mehr Raum einnehmen?

Ich glaube, in der verwaltungsinternen Kommunikation. Die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Disziplinen, den Ingenieuren, den Politikern, den Planern oder den Kämmerern - diese Zusammenarbeit, kann verbessert werden. Das steht in Projekten häufig nicht im Fokus. Im Gegensatz dazu, ist es schon vielfach angekommen, dass die Kommunikation mit der Bevölkerung wichtig ist. Zum Beispiel, dass nicht nur reine Fakten präsentieren werden, sondern sie auch emotional zu kommunizieren sind.

Wie wird sich die nachhaltige Mobilitätsplanung in den nächsten Jahren Ihrer Einschätzung nach entwickeln?

Im Moment gibt es Bestrebungen für eine EU-Direktive, die die europäischen Netze stärker im Blick hat. Dabei spielen die Städte und die Verbindung der großen Netze eine Rolle. Der Ansatz ist, dass alle größeren Städte gesamthaft, kollaborativ und partizipativ planen. Ich gehe davon aus, dass immer mehr Städte ein Interesse daran haben, einen SUMP zu entwickeln. Vielleicht sind auch Förderungen damit verbunden, die dann erhältlich sind, wenn gut plant wird oder man vorlegen kann, dass bereits gut geplant wurde. Ich erwarte, dass Städte vorangehen oder auch nachziehen müssen und überprüfen, was sind die Standards sind.

Die große Aufgabe der nächsten Phase ist, nachhaltige Mobilität in die Praxis umzusetzen. SUMP schafft die Voraussetzungen dafür. Es wird aber auch eine Herausforderung sein, die städtischen Systeme in diese Richtung zu bringen, in der viele Veränderungsprozesse warten. Da kann man neugierig und gespannt drauf sein.

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ZUR PERSON

Dr. Susanne Böhler ist promovierte Ingenieurswissenschaftlerin im Fachbereich Raumplanung. Sie leitet den Geschäftsbereich Direktberatung für integrierte Planung bei Rupprecht Consult, einem unabhängigen Forschungs- und Beratungsunternehmen mit dem Schwerpunkt auf innovative Lösungen für nachhaltige Mobilität. Mit ihrer Erfahrung aus der Raum- und Verkehrsplanung begleitet sie internationale und europäische Projekte für nachhaltigen Stadtverkehr und kommunale Mobilitätsstrategien.

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Selina Jendrossek

Selina Jendrossek ist Kommunikationsberaterin bei Lots* mit fachlichem Schwerpunkt auf Strategischer Kommunikation und Content-Entwicklung. Sie setzt ihre Erfahrung aus der Öffentlichkeitsarbeit ein, um Maßnahmen und deren Wirkung langfristig zu denken und zu evaluieren.

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