Um wieviel Prozent steigern gegenderte Stellenanzeigen die Bewerbungen von Frauen? Durch welche Recruiting Maßnahme können wir migrantische Mitarbeitende gewinnen? Diese Fragen begegnen mir in meiner Beratungsarbeit bei Unternehmen der Daseinsvorsorge. Meist aus einer Notlage heraus: Der Fachkräftemangel spitzt sich derart zu, dass viele ihre bisherigen Arbeitsabläufe und Recruitingkanäle überdenken.
Es braucht mehr Frauen, mehr Menschen mit Migrationshintergrund, Mitarbeitende aus verschiedenen sozialen Hintergründen, Führungskräfte aus dem Ausland, Fachkräfte mit Behinderungen, um der demografischen Lage etwas entgegenzusetzen. Da liegt nahe: Die Ansprache „diverser Zielgruppen“ birgt Potenziale und diversitätsorientiertes Recruiting ist die Lösung.
Das ist ein verbreitetes Argument. Leider gibt es keinen Einschaltknopf für diversitätsorientiertes Recruiting mit dem die gewünschten Mitarbeitenden automatisch kommen und bleiben. Da Unternehmen der Daseinsvorsorge komplexe Organisationen sind, verändert das Drehen an einem Rädchen noch nicht das ganze System.
Frauen, migrantische Menschen und Bewerber*innen of Color gezielt ansprechen
Dennoch gibt es Anhaltspunkte, wie Unternehmen diversitätsorientiertes Recruiting bereits in der Praxis umsetzen. Mehrere Studien beweisen, dass sich mehr Frauen bewerben, wenn sie explizit angesprochen werden. Eine Stichprobe im Stellenmarkt in der Zeitung für Kommunalwirtschaft (ZfK) im April 2023 zeigt: bei 36 Stellenanzeigen sind zehn mit Sonderzeichen gegendert, die Mehrheit nutzt geschlechtsneutrale Formulierungen wie „Abteilungsleitung“. Die Strategie der geschlechtergerechten oder neutralen Ansprache wird von vielen kommunalen Unternehmen genutzt, um mehr Frauen zu gewinnen und auch nicht-binäre, trans und inter Bewerber*innen einzuschließen.
Für Recruitingkampagnen, die gezielt migrantische Menschen und Bewerber*innen of Color ansprechen gibt es in der kommunalen Branche einige Beispiele. Die Leipziger Verkehrsbetriebe (LVB) haben eine Kampagne mit Busfahrer*innen im Stadtbild platziert, die zeigt, dass auch Menschen, die nicht weiß sind, im Unternehmen willkommen sind.
Auf der Informationsseite Startchancen zur Ausbildung bei den Dortmunder Stadtwerken DSW21 und dem Energieversorger DEW21 kommen Azubis zu Wort, die die Vielfalt der Stadtgesellschaft widerspiegeln und andere motivieren, sich zu bewerben. Eine Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes zeigt, dass branchenübergreifend in Deutschland immerhin jedes fünfte Foto auf einer Stellenanzeige auch eine Person mit „sichtbarem“ Migrationshintergrund zeigt.
Wenn der Bewerbungsprozess zum Hürdenlauf wird
Läuft durch die gegenderte und divers bebilderte Stellenausschreibung alles nach Plan? Die Zielgruppen sind angesprochen, die besten Bewerber*innen setzen sich durch – so die Theorie. Leider funktioniert ein Bewerbungsprozess nicht so, besonders nicht für Menschen, die nicht der Mehrheit entsprechen oder andere Merkmale als männlich, weiß, deutsch, akademisch, gesund und jung etc. mit ins Rennen bringen.
Bewerbungsprozesse gleichen einem Hürdenlauf für alle Bewerber*innen. Für manche sind die Hindernisse aber höher als für andere. Manche kommen gar nicht über die erste Hürde – nicht, weil sie nicht hoch genug springen könnten, sondern weil die Hürde in ihrer Bahn wesentlich höher angesetzt ist als die der Mitbewerber*innen. Ein paar exemplarisch ausgewählte Hürden, die auftreten können, habe ich Ihnen zusammengestellt:
Hürde I: Menschen mit ausländisch klingendem Namen, Foto mit Kopftuch oder mit bestimmten sozialen Milieus assoziierte Namen haben signifikant schlechtere Chancen, zum Bewerbungsgespräch eingeladen zu werden. Die Forschungsergebnisse dazu sind haarsträubend. Praktisch heißt das, dass eine qualifizierte Fachkraft mit Potenzial (und Namen Aladdin, Hatice, Kevin oder Nancy) möglicherweise in der Auswahl übersehen wird. Dahinter stecken unbewusste Vorurteile (engl. Unconscious Bias). Sind die Personaler*innen zu Unconscious Bias geschult und können die negativen Effekte davon in ihrem Handeln „einfangen“? Kommen die Bewerber*innen in die engere Auswahl?
Hürde II: Führungskräfte entscheiden am Ende gemeinsam mit Personaler*innen, Gleichstellungsbeauftragten oder Betriebsrät*innen, wer es wird. Dabei gibt es das Risiko, dass sie nur Mitarbeitende einstellen, die ihnen selbst ähnlich sind. Oder „trauen“ sie sich als männliche extrovertierte hetero Führungskraft eine ruhige alleinerziehende lesbische Kollegin einzustellen? Oder einen Kollegen mit Autismus, der eine persönliche Assistenz zur Arbeit mitbringt? Gibt es die Einladung zum Bewerbungsgespräch oder passt die Person dann vermeintlich „nicht ins Team“?
Hürde III: Kann der*die Bewerber*in im Bewerbungsgespräch zeigen, was sie kann? Sitzen ihr nur Menschen gegenüber, die ganz anders aussehen als sie selbst, kann das mehr einschüchtern als es die Situation an sich schon tut. Werden unpassende und diskriminierende Fragen gestellt? Wie werden bspw. ihre Bedürfnisse nach einem Einzelbüro, flexiblen Arbeitszeiten, Gebetspausen, einer geschlechterneutralen Toilette etc. im Gespräch aufgenommen? Werden daraus unausgesprochen Gründe, die Person nicht einzustellen?
Hürde IV: Angenommen, diese Hürden werden alle genommen und es gibt eine Zusage. Wie läuft das Onboarding ab? Ist das Team vorbereitet auf den oder die „Neue“? Gibt es eine Kultur des Respekts von Unterschiedlichkeit oder raunt es auf den Gängen, wenn der bisexuelle Kollege eingestellt wird? Geht der Neue schon nach kurzer Zeit aufgrund von Ausgrenzung und Mikroaggressionen oder bleibt er dem Team bestehen?
Die Szenarien, die entstehen, wenn diese Hürden nicht abgebaut werden, sind ein großer Verlust. Menschlich und ethisch natürlich an erster Stelle. Auch ökonomisch wird das mittlerweile als relevant angesehen: Mit dem Azubi-, Fach- und Führungskräftemangel im Nacken können sich Unternehmen das gar nicht mehr leisten.
Die wichtige Rolle der Personaler*innen
Kommunale Unternehmen haben durch die Vielzahl an Arbeitsbereichen und unterschiedlichen Positionen vom Topmanagement bis zur Stelle für Ungelernte oder Quereinsteiger*innen großes Potenzial die Gesellschaft abzubilden. Es kann langfristig keine Diversität im Unternehmen geben ohne diskriminierungssensibles Recruiting, da Bewerbungsprozesse an der Schnittstelle zur diverser werdenden Gesellschaft sind. Personaler*innen haben eine zentrale Funktion: Sie können Diskriminierung vermeiden, benachteiligten Bewerber*innen Chancen einräumen und neue oder unterrepräsentierte Gruppen fördern.
Ein erster Schritt kann sein: zunächst einmal die Hürden im Unternehmen zu identifizieren. Zum Beispiel indem man die Perspektive wechselt und sich als Personaler*in versucht, sich in potenzielle Bewerber*innen hineinzudenken, die anders sind als man selbst und so überlegt, was Bedürfnisse, Fragen, Notwendigkeiten sein könnten. Und anschließend die Führungskräfte auf diese vorbereitet. Nachfragen ist natürlich noch besser.
Versprechen Sie nichts, was anderswo im Unternehmen nicht gehalten wird
Es reicht nicht, nur im Außenbild zu zeigen, wen man gerne ansprechen möchte, sondern es gilt, die Hürden im Bewerbungsprozess und darüber hinaus anzuerkennen und abzubauen. Sensibilität für Diversity endet logischerweise nicht im Bewerbungsprozess. Die Überarbeitung der Arbeitsabläufe kann neben der Sensibilisierung für unbewusste Vorurteile und Diversitätsdimensionen, die Formulierung strategischer Recruitingziele oder die Anonymisierung der Bewerbungsprozesse sein.
Ich bin überzeugt: Es braucht nachhaltige Strukturen für Vielfalt im Unternehmen, wie z.B. unterstützende und empowernde Angebote für queere Mitarbeitende, Menschen chronischen Krankheiten, Pflegeleistende, im Alter, für Deutschlernende etc. Der Umbau von inneren Strukturen geht Hand in Hand mit der Ansprache und Gewinnung diverserer Zielgruppen über ein diversitätsorientiertes Recruiting. Kurz: Diversitätsorientierung ist ein ganzheitlicher Organisationsentwicklungsprozess.