Beginnend mit Einführung der digitalen Akte über ein gemeinsam entwickeltes Verständnis von Führung bis hin zu einem einheitlichen Wissensmanagement: Das Projekt “Digitalisierungslotsen” sorgt für Identifikation mit dem Unternehmensverbund Diakonie im Landkreis Gotha und seiner zukünftigen Ausrichtung.
Veränderte gesetzliche Rahmenbedingungen, hohe Fluktuation im Unternehmensverbund, bevorstehende Renteneintritte von Fachkräften, vor allem aber der fortschreitende digitale Wandel in der sozialen Arbeit stellt die Diakonie im Landkreis Gotha vor existenzielle Fragen.
Welche Prozesse brauchen Veränderung? Wie verstärken wir interdisziplinäres Arbeiten? Was braucht es für den Aufbau einer Infrastruktur für mobiles Arbeiten? Welche gesetzlichen Regelungen sind zu berücksichtigen? Welche Ansätze gibt es für zukunftsfähige Strukturen?
Das Projekt “Digitalisierungslotsen” begleitet seit April 2018 die Mitarbeitenden und Führungskräfte im Unternehmensverbund in ihrem Prozess der Organisationsentwicklung. Ziel ist es, ein einheitliches Verständnis von Führung auch im Hinblick auf die Herausforderungen der Digitalisierung in der Sozialwirtschaft zu entwickeln. Parallel gilt es, die Bindung der Mitarbeitenden zu erhöhen und die interne Nachwuchsförderung zu verbessern.
Susanne Mechau, die das Projekt “Digitalisierungslotsen” im Unternehmensverbund leitet, erzählt im Interview über Beteiligung als Erfolgsfaktor, die Grenzen digitaler Arbeit und wie Veränderungen von außen, Strukturänderungen im Unternehmen erzwingen.
Lots*: 30 Monate, 80 Workshops, 640 Mitarbeitende: Für die Diakonie im Landkreis Gotha ist es das größte gemeinsame Fortbildungsprojekt, das der Verbund jemals seinen Mitarbeitern angeboten hat. Was hat Sie ganz persönlich bewegt, an diesem Projekt mitzuarbeiten?
Susanne Mechau: Ganz ehrlich, ich habe das Projekt übernommen, ohne genau zu wissen, auf was ich mich da eigentlich einlasse. Organisationsentwicklung empfinde ich als Aufgabe unglaublich spannend und den Bodelschwingh-Hof mit seinem Vorstand kannte ich bereits als menschlich guten Ort.
Das Projekt “Digitalisierungslotsen” bot mir die Chance von innen mit zu gestalten, mein Wissen und meine Erfahrung in der Erwachsenenbildung ganz konkret auf einen Träger einzubringen. Das fand und finde ich ungemein reizvoll. Das ich mit Digitalisierung vorher kaum etwas zu tun hatte, spielte bei meiner Entscheidungsfindung kaum eine Rolle.
Der Unternehmensverbund Diakonie steht vor großen Herausforderungen. Gab es auf ihre Situation übertragbare Veränderungsbeispiele, die die Mitarbeitenden und Führungskräfte ermutigt haben, den Wandel hier und jetzt zu beginnen?
Nein, eine Blaupause oder vergleichbare Erfahrungswerte, die wir hätten heranziehen können, gab es in der Sozialwirtschaft bisher nicht. Im Unternehmensverbund gab es bereits einzelne Bereiche, die schon begonnen haben, Prozesse zu digitalisieren.
Nur, durch die neue Gesetzgebung verändert sich das bisherige Kostenträger- und Verwaltungsmodell in seinen Grundstrukturen. Finanzierung, Teilhabe und Selbstbestimmung müssen komplett neu gedacht werden. Und es braucht Verhaltensänderungen durch die Mitarbeitenden in der Begegnung mit den Klienten. Den Wandel der Organisation zu beginnen, bedeutete für uns, bei null anzufangen.
Es gibt viele ineinandergreifende Ansätze, um Organisation weiterzuentwickeln. Mit Blick auf Ihre Projekterfahrung: Was soll allen Ansätzen voranstehen?
Umdenken ist gefragt. Das fängt in der Führungsebene an und setzt sich bis zu jedem einzelnen Mitarbeitenden fort. Für uns im Unternehmensverbund bedeutet das vor allem ein Umdenken in unserem Selbstverständnis. Wir sind nicht mehr Verwalter sondern Dienstleister.
Meine Erfahrung ist auch, dass Projektmanagement Methoden kaum anwendbar sind. Das Projekt brachte so viel Neues, auf das wir nicht eingestellt waren. Hier half es uns, Unsicherheiten zuzulassen, immer wieder auszuprobieren und was nicht funktioniert hat, zu verwerfen.
Die Bereitschaft, Neues auszuprobieren und eine offene Haltung gegenüber Veränderungen vorzuleben, sind immens wichtig. Ob Vorstand, Mitarbeitende oder Projektleitung – letztendlich sind wir alle Lernende.
Führungsverhalten basiert bisher oft auf Kontrolle und Anweisung. Wie sind Sie den Wandel oder zumindest eine Erweiterung in der Führungskultur angegangen?
50 Führungskräfte im Unternehmensverbund bilden die Vielfalt im Führungsverhalten ganz gut ab. Unsere Haltung war und ist: Die Führungskräfte sind da, wo sie eben sind und arbeiten so, wie es von ihnen verlangt wird.
Unser Ziel im Führungskräfte Training war, erst einmal alle auf einen einheitlichen Wissensstand zu bringen. Alle Führungskräfte erhielten einen verbindlichen Zeitplan, so dass sie wussten, wann kommt das nächste Training, wann muss ich mich in das Thema einarbeiten. Sehr wertvoll waren die regelmäßigen Austauschrunden, sie sorgten für mehr Offenheit untereinander und schafften Vertrauen.
Eine wichtige Erkenntnis für mich war, dass es den Führungskräften hilft, wenn Trainingseinheiten und Austauschrunden in die Arbeitszeit integriert werden und nicht zusätzlich am Wochenende stattfinden.
Es heißt oft: “Der digitale Wandel an sich ist nicht die Herausforderung für Organisationen, sondern wie damit umgegangen wird.” Wie sensibilisiert man Menschen, die bisher nicht mit dem Computer gearbeitet haben, für den Umgang mit digitalen Medien und vermittelt ihnen Basiswissen?
Das stimmt (lacht). Um den Wandel anzugehen, braucht es den Willen und die Entscheidung aus der Führungsebene. Das klare Signal, wir werden diesen Weg jetzt mit euch gehen. Wir haben sehr früh damit begonnen, alle Mitarbeitenden dazu zu bringen, Digitalisierung zu denken. Durch Fragen haben wir von den Befürchtungen, Erwartungen und Wünschen erfahren.
Wichtig war auch, dass über die komplette Projektdauer aus allen Bereichen und aus allen Hierarchieebenen Vertreter*innen dabei waren. Und es braucht niedrigschwellige Bildungsangebote auf technischer und auf inhaltlicher Ebene. Hier hilft es zu fragen, welche Inhalte für die Mitarbeitenden überhaupt von Interesse sind. Und über die Mitarbeitenden, die als Digitalisierungslots*in im Unternehmen unterwegs sind, immer wieder kommunizieren, welche Angebote wo und wann zur Verfügung stehen.
Das Projekt “Digitalisierungslotsen” hat eine Laufzeit von 30 Monaten und endet im Oktober 2020. Werfen Sie doch bitte einen Blick zurück. Was hätten Sie zu Projektbeginn nicht für möglich gehalten?
Das wir Videokonferenzen machen. Meine Einschätzung zu Projektbeginn lautet “da kommen wir nie hin”. Heute kommen wir schnell per Videocall zusammen und jeder bleibt an seinem Arbeitsplatz, anstatt durch den Landkreis zu fahren.
Unterschätzt habe ich, wieviel Zeit eine Organisation braucht, sich über ihre eigenen Prozesse und Strukturen klar zu werden, zu erarbeiten wie es zukünftig sein soll, einen Weg zu finden, auf den sich alle einigen können.
Und meine Erwartungen an die Digitallotsen hat sich im Laufe des Projektes stark gewandelt. Ihr Einsatz muss sowohl inhaltlich als auch zwischenmenschlich sehr gut vorbereitet werden und einen niedrigschwelligen Ansatz verfolgen.
Wenn Sie heute wieder vor der Aufgabe stünden, den digitalen Wandel in einem Unternehmen als Projektleiterin zu begleiten, was würden Sie auf jeden Fall machen?
Auf jeden Fall würde ich mir bei einem Projekt dieser Größenordnung Begleitung von außen suchen. Das können regelmäßige Supervisionen sein, die den eigenen Blick weiten, Erkenntnisse fördern und helfen einzuschätzen, was durch die Arbeit mit Vorstand, Führungskräften und Mitarbeitenden gerade um einen herum passiert.
Und wie lautet Ihr ganz persönliches Fazit über den digitalen Wandel in der sozialen Arbeit?
Sozialwirtschaftliche Unternehmen sollten schauen, was der digitale Wandel für die soziale Arbeit bedeutet und vor allem auch leisten kann. Denn Digitalisierung ist weit mehr als eine technische Umstrukturierung. Sozialarbeiter*innen müssen sich nicht nur in Sozial- und Leistungsrecht auskennen, sondern auch im Umgang mit digitalen Medien. Weil unsere Klienten schon heute ganz andere Bedarfe haben. Sie organisieren sich in WhatsApp Gruppen und soziale Medien spielen eine große Rolle.
Hinzu kommen die Möglichkeiten von Smart Home Lösungen, die das Leben von Menschen mit Beeinträchtigungen enorm vereinfachen. Hier braucht es viel mehr Basiswissen. Das gilt auch für mich: Durch die Digitalisierungslotsen war ich über 30 Monate eine Lernende und werde es auch weiterhin bleiben.
Liebe Susanne Mechau, herzlichen Dank für dieses offene Gespräch, die vielen Einblicke in das Projekt und Ihre Arbeit als Projektleiterin.
Susanne Mechau ist studierte Erziehungswissenschaftlerin. Im Interview sprach sie von der Bedeutung, die die 3. Dimension in der sozialen Arbeit einnimmt. Wahrnehmen, wie es dem anderen geht, Nähe und Wärme vermitteln – das sind und bleiben wesentliche Aspekte im Umgang mit Menschen. Bei einem ausschließlichen Fokus auf online, drohen diese Aspekte verloren zu gehen.
Susanne Mechau arbeitet auf dem Bodelschwingh-Hof Mechterstädt e. V. Im Verbund mit dem Diakoniewerk Gotha und den Betrieb von Tochterfirmen gestaltet der Hof, die Soziale Arbeit im Landkreis Gotha. Das Projekt “Digitalisierungslotsen” wird vom Europäischen Sozialfond für Deutschland gefördert.
Erfahrungsberichte, Interviews, Ratgeber: In der Reihe “Digitales Arbeiten – neue Arbeitsmodelle, neue Chancen” teilen Unternehmer*innen, Führungskräfte und Projektleiter*innen ihre persönlichen Erfahrungen und Aha-Momente in der Welt des digitalen Arbeitens.