Anonyme Bewerbungen – eine Chance für alle?

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Nach Einschätzung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes ist Diskriminierung im deutschen Arbeitsmarkt immer noch weit verbreitet. Rund ein Viertel der Diskriminierungserfahrungen im Arbeitsleben werden den Angaben zufolge während der Arbeitssuche und Bewerbung gemacht. Anonymisierte Bewerbungsprozesse setzen genau hier an. Die Bewerbungen verzichten auf Foto, Adresse, Geburtsdatum, Alter, Geschlecht, Familienstand, Religion und Herkunft. Der Fokus liegt auf den Qualifikationen und beruflichen Fähigkeiten.

Diskriminierung erfolgt unbewusst

„Eine Auswahl findet rein auf Basis der Kompetenzen statt. So hat jeder die Chance, bis zum Bewerbungsgespräch zu kommen“, sagt der Osnabrücker Wirtschaftspsychologieprofessor Uwe Kanning, dessen Forschungsschwerpunkt u. a. die Personalauswahl in Unternehmen ist. „Mehrere Pilotprojekte haben gezeigt, dass das Verfahren gut umzusetzen ist und Benachteiligungen im Bewerbungsverfahren minimieren kann“, so Prof. Dr. Kanning.

Gerade in der ersten Bewerbungsstufe ist die Diskriminierung am stärksten ausgeprägt. Sie erfolgt häufig unbewusst. „Vorbehalte wirken sich in und nach einem persönlichen Gespräch weniger stark auf Entscheidungen aus als auf Grundlage von schriftlichen Unterlagen“, sagt Dr. Ulf Rinne vom Bonner Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA), der sich seit vielen Jahren in der empirischen Arbeitsmarktforschung tätig ist und sich unter anderem mit Maßnahmen zum Abbau von Diskriminierung beschäftigt.

Noch kein gängiges Bewerbungsverfahren in Deutschland

In den USA und Kanada ist der Verzicht auf persönliche Angaben in vielen Unternehmen schon lange üblich. Auch einige europäische Länder wie Frankreich, Belgien oder der Schweiz haben bereits positive Erfahrungen gemacht. In Belgien wurde das Verfahren im gesamten öffentlichen Sektor eingeführt. Warum lehnen die meisten Unternehmen die anonymisierte Bewerbung immer noch ab? Dafür gibt es, laut Rinne, vielfältige Gründe. Eine Rolle dürfte spielen, dass vielen Unternehmen die genaue Funktionsweise der anonymen Bewerbung unbekannt ist und sie damit schlichtweg noch keine Erfahrungen gesammelt haben.

Kanning kritisiert währenddessen, dass Personalverantwortliche Entscheidungen zu sehr aus dem Bauch heraus treffen. Mit den Jahren im Beruf glaube man, ein Gefühl für den geeigneten Mitarbeiter entwickelt zu haben. Laut Kanning sei das ein klassischer Fehlschlag, weil sie ja nicht wissen, ob unter den Aussortierten nicht die geeigneteren Menschen gewesen wären.

Diversity zahlt sich aus

Aus ökonomischer Sicht profitieren Unternehmen von anonymisierten Bewerbungsverfahren. Davon ist Dr. Ulf Rinne überzeugt: „In einer vielfältigen Gesellschaft und global vernetzten Wirtschaft zahlt sich Diversität aus. Dies ist nicht nur der Fall, weil der persönlichen Kundenkontakt oder die individuellen Bedürfnisse einer breiten Kundschaft heute wichtiger denn je sind, sondern auch, weil Vielfalt in der Belegschaft die Kreativität, die Innovationskraft und die Wettbewerbsfähigkeit einer Organisation erhöht“, so Rinne.  

Wer überlegt, Bewerbungen zukünftig zu anonymisieren, muss die gängigen Prozesse nicht abrupt abschaffen. Es bietet sich an, das Verfahren zunächst für einzelne Stellenausschreibungen einzusetzen. „In unseren Untersuchungen hat sich der Einsatz von standardisierten Bewerbungsformularen als praktikable Methode der Anonymisierung erwiesen“, sagt Rinne. Damit bestehe zwar das Risiko, dass durch den für die Interessenten etwas aufwendigeren Prozess einzelne Kandidat*innen abspringen, insgesamt steige aber die Qualität der eingehenden Bewerbungen.

Eine gezielte Förderung von unterrepräsentierten Gruppen ist übrigens trotz anonymisierten Bewerbungsverfahrens möglich – nach der Erstauswahl im zweiten Schritt. Ohnehin stellt das anonymisierte Bewerbungsverfahren nur einen Aspekt für Diversity-Management in Organisationen dar. Zwar wird damit die Benachteiligung einzelner Gruppen in einer wichtigen Phase verringert. Benachteiligungen bei Beförderungen oder im Bildungsbereich lassen sich damit aber beispielsweise nicht verhindern.

Dieser Beitrag erschien erstmals in der Mai-Ausgabe 2021 der Zeitung für kommunale Wirtschaft (ZfK).

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Caroline Günther

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